Bleibt Gesund!

Überall an allen Wänden, von allen Bildschirmen, aus allen Telefonen, von Statusmeldungen, in Bus, Bahn und Werbeschildern an der Autobahn tönt es dir entgegen. „Bleibt gesund“ Es steht in Fenstern, Schaufenstern, an Schulen, Altenheimen, Krankenhäusern, Superläden. „Bleibt Gesund“

Man sitzt in seinem Büro, jetzt bar jeder Sozialkontakte, kauernd am PC, Tisch zu klein, Stuhl zu niedrig, Arbeitgeber scheisst drauf, kostet ja Geld. Stehtische nur für die oberen, Thrombosen für das Fußvolk. „Bleibt Gesund“

Kontakte mit Kollegen, Austausch, gegenseitiges Lernen, soziales Leben? Hier nehmt das Videokonferenztool, irgendwer wird es euch schon erklären. Eine zentrale Anleitung im Intranet oder wenigstens eine zentrale Bestellmöglichkeit für Räume? Wozu? Geheimwissen hat noch so manchen Posten gerettet. „Bleibt gesund“

Nach 8h Zwangshaltung ins Fitti? Pustekuchen, ist gefährlich! Sind zwar alle Fenster offen aber Gefahr, Gefahr, TODSGEFAHR! Was also tun mit 8h Starre, 8h Frust, 8h unnatürlichem Krampf? Natürlich nach 8h Starre frohlockend heimfahren und dort im Homegym mit Zahnpastawerbungslächeln an Gummibändern zupfen! Und wer das nicht tut, wer eine strukturierte Umgebung braucht, wer Mitmenschen zur Motivation braucht, der ist im Leben dieser Tschakkaknakka wohl Abfall. „Bleibt gesund“

Ab in die Sauna natürlich! Saunieren stärkt das Immunsystem, der Wechsel von heiß und kalt lockert Muskeln, Bänder und Sehnen, tut der Seele gut, hält den Geist frisch und lebendig, ebenso wie die Gespräche im Saunagarten an dessen Gestaltung der Geist Erbauung findet. Oh. Ist auch geschlossen. „Bleibt Gesund“

Treffen wir uns doch mit Freunden! Tauschen uns aus, helfen uns bei unseren Sorgen und Nöten, hören einfach anderen zu.
Nehmen uns gegenseitig in den Arm
Spielen im Voyager oder beim Pubquiz, unterhalten uns nach Kino oder Theater über Film oder Stück. Freuen uns über neue Anregungen, neue Impulse, Trost. Oh, stimmt. Ist zu gefährlich geworden. „Bleibt Gesund“

Immerhin haben wir ja ein reiches Land, hier muss jemand Exisitenzsorgen haben. Selbstständige die bis vor kurzen noch monatlich fünf- sechsstellig nach Hause brachten, entsprechend auch nicht im Sozialbau wohnen (in den sie eh nicht reinkommen, wer will schon Ghettos auflösen) werden von heute auf morgen mit einem Berufsverbot belegt. Jahrelanges Studium, gefeierte internationale Tourneen, alles wertlos wenn der Amtsschimmel Hartz4 empfiehlt. Aber bitte erst nachdem die Vermögenswerte verzehrt wurden. Wozu eine Geige für 80000 wenn man auch auf einem Ölfass spielen kann? „Bleibt Gesund“

Bleibt noch die Keimzelle der Gesellschaft die Familie. Wohnhaft im schicken Vorstadtreihenhaus mit offenem Grundriss und bodentiefen Fenster. Frisch, klar, modern, transparent. Flur, Küche, Wohnzimmer alles, wir sind ja offen und kommunizieren gern. Stundenlang, tagelang, wochenlang, monatelang. Keine Privatsphäre. Türen dünn wie Papier, der Nachbar von gegenüber zählt schon wieder die Katzenhaare auf dem eigenen Laminat. Aber wir sind ja modern, diskutieren alles aus. Außer wir können nicht mehr. Haben keine Kraft mehr. Lieben noch den anderen Menschen brauchen nur einfach eine Pause für uns. Ganz allein. Es schmerzt uns seinen Anblick im Moment nicht mehr ertragen zu können und kommen doch nicht daran vorbei. Also beißen wir die Zähne zusammen, setzen unsere Maske aus, das Cortisol schießt uns aus den Haarspitzen raus. „Bleibt gesund“

Ja Corona ist echt. Es ist da. Es ist nicht gekommen um schnell zu gehen. Dennoch dürfen wir nicht nur die eine KPI wie eine Monstranz vor uns her Tragen. Das Leben ist vielfältig, man kann es schlecht auf KPIs herunterbrechen und das Gesundheitssystem auf ein USP eindampfen.
Gesundheit = Abwesenheit von Diagnosen = Maximal anzustrebender Glückszustand funktioniert nicht. Lebensqualität kommt hierbei nicht vor und wer sich nicht traut zum Arzt zu gehen, wer keine Hoffnung mehr hat gerät in diesem System unter die Räder. „Bleibt Gesund“

„Bleibt Gesund“ Als ob dies das Maximalziel des Lebens wäre. Als ob im Umkehrschluss alles Kranke, Eingeschränkte, Behinderte nicht erstrebens- und nicht lebenswert wäre. Auch ein krankes Leben mit Diabetes kann wunderschön und erfüllt sein. Ein krankes Leben mit schmerzhafter Arthrose hat helle Momente voller Nähe, Licht und Wärme deren jede einzelne Sekunde kostbar und lebenswert ist. Ein kranker Mensch kann genesen. Kann lernen mit seinen Einschränkungen umzugehen, sich anzupassen, das beste aus seiner Situation zu machen. Ein kranker Mensch findet vielleicht Mitmenschen die ihm helfen. Ein gesunder Mensch kann nicht gesünder werden. Sein Pfad zeigt nach unten. Er muss Vitamine fressen, Sport treiben -oops, haha, meine Fehler. In die Sauna — ach Mist. Muss seinen Geist mit Kunst und Kultur fit hal — ach verdammich. Was bleibt dem Gesunden? Ihm bleibt ja nur noch Angst. Angst davor krank zu werden, Angst davor wertlos zu werden, wertlos in einer Gesellschaft in der die vor dem Bildschirm verbrachte Zeit Maßstab der Produktivität ist. Angst nicht mehr dazu zu gehören, hinten über zu fallen.

So schlimm Corona und die Folgen sind. Und ja, die Folgen sind schlimm, allein die Todeszahlen unter den Ärzten in Italien im Frühjahr sind erschreckend! Dennoch dürfen wir nicht alles nur auf eine KPI runterbrechen. Es muss eine evidenzbasierte Diskussion geben welche Personen am meisten von der Krankheit und welche von den aktuellen Einschränkungen betroffen sind und wie wir hier einen Ausgleich schaffen. Einen Ausgleich der die Gefährdeten maximal schützt und die von seelischen Schäden gefährdeten am besten schützt. Es darf kein Aufrechnen von jungem vs. altem Leben geben. Es muss aber wissenschaftliche Untersuchungen von Ansteckungsketten und Keimbelastungen geben. Es muss Untersuchungen über Vorerkrankungen, sozialen Stand, bestmögliche Prävention geben. Dies alles öffentlich, meinungsfrei und evidenzbasiert.

In diesem Sinne „Lebt lebenswert“ für euch – und auch für eure nächsten.